Dilek Ruf ist nach 75-jähriger Geschichte die erste Frau an der Spitze des Bund Deutscher Architekten (BDA) in Niedersachsen. Dilek wurde 1974 in der Türkei geboren, verlebte ihre Schulzeit in Bayern und Hessen und studierte Architektur an der TU Darmstadt.
2006 gründete Dilek ihr erstes eigenes Architekturbüro MMZ Architekten mit Frankfurter Partnern in Hannover. 2012 folgte die Gründung von BBU.PROJEKT, mit aktuell 15 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus sieben Nationen. Dilek ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Mit F!F sprach sie über Themen, für die sie sich im Beruf und Ehrenamt einsetzt: echte Nachhaltigkeit und mehr Mitsprache von Frauen.
Foto: © Julian Martitz.
F!F: Du wolltest „eigentlich“ Journalistin werden. Wie bist du zum Architektur-Studium gekommen, gab es eine familiäre Prägung?
Dilek Ruf: Überhaupt nicht; das Thema Architektur war in unserem Universum nicht präsent.
Im Grunde war es Zufall: Auf der Schulabschluss-Reise nach Rom ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Bauen eigentlich bedeutet, wie schön Raum und Stadt ist. Wenn man das erste Mal im Pantheon steht, ist es wirklich beeindruckend. Dann saß ich als Schülerin im Biergarten, und eine Freundin schwärmte so von ihrem Architektur-Studium in Darmstadt, dass ich dachte: Das schaust du dir an.
F!F: Hat sich der Berufstraum erfüllt?
Dilek Ruf: Im Studium gab es auch Situationen, wo ich gezweifelt habe, ist es wirklich das Richtige für dich? Heute bin ich froh, dass ich das durchgezogen habe. Dieser Beruf ist zu meinem Traumjob geworden auf dem Weg, den ich gegangen bin: Wir dürfen gebaute Umwelt gestalten, in der Menschen leben, wohnen, arbeiten. Wir leisten einen Beitrag, der hoffentlich das Zusammenwirken besser macht. Und jedes Projekt ist ein Unikat: Es sind immer andere Unternehmen mit einer anderen Kultur, die wir in Raum übersetzen. Dasselbe beim Wohnen, wo wir die unterschiedlichsten Situationen haben.
Auch die Vielfalt an Menschen, mit denen wir zu tun haben, ist bereichernd: die Handwerker und Handwerkerinnen, die Investoren und Investorinnen, die Stadt, die Politik, unsere Fachplaner-Kollegen und -Kolleginnen. Insofern ist der Fachkräftemangel eine Werbung: Studiert Architektur und Stadtplanung! Es ist ein wunderschöner Beruf.
„Wir haben Immobilien ein Stück weit zu Wegwerf-Produkten erklärt.“
F!F: Zu deiner Studienzeit herrschte noch das Klischee vom Architekten als männlichem Genius, die komplette Professorenschaft in Darmstadt war männlich. Wer war dir Vorbild?
Dilek Ruf: Ich glaube, man braucht in allen Lebensphasen eine Figur, die einem zufällig – danke, Universum! – über den Weg läuft und einen ein Stück begleitet. Diese Menschen wissen gar nicht unbedingt, dass sie eine Leitfunktion haben. Für mich war das Professor Dietmar Eberle, an dessen Lehrstuhl ich als Studentin gearbeitet habe. Das war jemand, der einen sehr offenen Geist hatte, der mich persönlich geprägt hat. Aufgrund seiner Architektur und wie er Dinge entwickelt hat. Ganz undogmatisch, aus dem heraus, was ihn umgeben hat. Gar nicht dieses: Der Architekt, der Künstler...
Es gibt sicher Architekten, die auch Künstler sind. Aber 90 Prozent unserer Bauwerke sind Alltagswerke, die wir mit großer Sorgfalt planen sollten. Damit sie im Sinne von Nachhaltigkeit gute Materialität haben und städtebaulich gut eingebettet sind.
F!F: Und die nicht nach 40 Jahren abgerissen werden, weil sie nicht mehr gefallen?
Dilek Ruf: Bestenfalls schaffen wir Gebäude, die baukulturell und strukturell so intelligent sind, dass sie lange, lange im Betrieb bleiben. Am besten über Jahrhunderte. Was ja mal normal war. Wir haben Immobilien ein Stück weit zu Wegwerf-Produkten erklärt, ein bisschen wie „Fast Fashion“. Im Sinne von Nachhaltigkeit gibt es nichts Besseres als ein Haus, das möglichst lange hält und in seiner Struktur so ist, dass es mal zum Wohnen dient, mal als Arztpraxis, dann wieder als etwas anderes.
F!F: Beobachtest du, wie in deiner Zunft diese soziale Verantwortung, die sogenannten ESG-Kriterien, zur Pflicht oder bestenfalls zum Selbstverständnis geworden sind?
Dilek Ruf: In den Projekten, die wir betreut haben, haben wir das nicht ESG-Kriterien genannt. Aber Nachnutzung, Bestandsentwicklung und vor allem auch Erhalt von Bestand sind für uns immer schon Herzensthemen. Auch das Thema, wie gehen wir mit Bodenressourcen um? Also das Prinzip Innen- vor Außenentwicklung: Dass wir unsere Städte weiter ausbauen und nicht weiter über dieses Land verfügen, als sei es unendlich. Das Bewusstsein, dass unsere Ressourcen endlich sind, gehört zu unserer DNA als Planungsbüro.
Insofern sind das keine Modebegriffe. Es gibt ein Zitat von Joseph Stieglitz, einem Wirtschaftsnobelpreisträger: „Der Klimawandel ist da. Wir können ihn nicht per Gesetz abschaffen.“ Das mag uns nicht gefallen. Aber wir müssen damit umgehen und neue Wege gehen.
„Man sollte sich kritisch anschauen, was ist wirklich nachhaltig?“
F!F: Der Sommer war in vielen Städten zu laut, zu voll, zu heiß. Da halfen zum Beispiel auch keine mit Buchen begrünten Fassaden.
Dilek Ruf: Das Thema Greenwashing beschäftigt mich auch sehr. Wir müssen da in eine offene Diskussion treten. Es gibt momentan viele Heilsformeln, die durchs Land getrieben werden. Holzbau und Fassaden-Begrünung sind zwei davon. Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit einer jungen Wissenschaftlerin, die im Bereich grüne Infrastruktur forscht und zu der Erkenntnis gekommen ist: Fassadenbegrünung ist im Sinne von Nachhaltigkeit kein guter Weg. Das liegt daran, dass die Unterkonstruktionen nur 15 Jahre halten und dann ausgetauscht werden müssen. 100 Quadratmeter Fassadenbegrünung, so das Ergebnis ihrer Forschung, würden ersetzt durch das Anpflanzen von fünf Bäumen, deren Lebensdauer wie auch Pflegaufwand einen deutlich positiveren Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Und was den Holzbau angeht: Der WWF warnt in einer aktuellen Studie: „Globaler Holzverbrauch übersteigt nachhaltige Erntemenge deutlich“, wesentlich ausgelöst durch die gestiegene Nachfrage aus der Bauwirtschaft.
Wir meinen, dass wir das Eine gegen das Andere tauschen, sprich Massivbau gegen Holzbau, sonst aber genauso weitermachen können wie gewohnt.
Es gibt Etiketten, die schnell Bilder erzeugen: Grün ist gut. Aber man sollte sich kritisch anschauen, was ist wirklich nachhaltig? Es gibt Unternehmen, die sehr gewillt sind, nicht nur symbolisch sondern aufrichtig Projekte zu entwickeln, die dieses Prädikat verdienen.
F!F: Wie nachhaltig ist die Glasarchitektur, die wir in den letzten Jahrzehnten oft gesehen haben?
Dilek Ruf: Es gibt in Hannover ein prominentes Beispiel, das sich noch in der Realisierung befindet: Wenn ich ein Haus baue, das dieses Maß an Verglasung hat, betreibe ich einen unfassbar hohen technischen Aufwand – vielleicht mit Photovoltaik, Wärmepumpe und Fassadenbegrünung – damit ich es runterkühlen oder beheizen kann. Einfach, damit das Gebäude seinen Zweck erfüllen kann, nämlich dass es als Arbeitsstätte funktioniert.
Es gibt eine Untersuchung von Transsolar, die exemplarisch ist für den Weg, den wir eingeschlagen haben und der uns teilweise in Sackgassen führt. Die haben zwölf Schulen unter Aspekten wie Baugesundheit, Recycling-Fähigkeit, Energiebedarf, Betriebskosten oder Aufheizung untersucht. Die älteste Schule war von 1905, die letzte von 2018. Die älteste Schule hatte die besten bauphysikalischen Werte, die neueste die schlechtesten.
Warum? Die Schule aus 2018 hat im Übrigen ganz viel grüne Technik drin, mit Lüftungsanlagen, Wärmerückgewinnung und hast du nicht gesehen. Diese Schule hat ein komplettes Geschoss nur mit Technik! Das heißt, wie bauen Raumvolumen, um Technik unterzubringen, die wir dauerhaft warten und austauschen müssen. Um letztlich ein schlechteres Ergebnis zu erzielen.
Ich plädiere nicht dafür, dass wir nicht weiter forschen. Das sollten wir dringend und dringendst regenerative Energien nutzen. Aber die Art und Weise, wie wir Bauen begreifen, ist an manchen Stellen stark korrekturbedürftig. Auch, wie wir grüne Technologie im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit begreifen.
„Wir haben riesige Aufgaben vor uns und brauchen die Fachkräfte.“
F!F: Ist was dran an dem Klischee: Männer sind technikverliebter als Frauen?
Dilek Ruf: Ich glaube nicht, dass Frauen und Männer sich vom Grundsatz her so sehr unterscheiden gemäß den Klischees: Frauen sind empathischer, Männer technikaffiner. Davon würde ich mich verabschieden. Wovon ich mich nicht verabschiede ist, dass wir das Potenzial von vielen, vielen Frauen, die wir in den Hochschulen ausbilden, verschwenden! Ich sehe, wie leidenschaftlich und intensiv die Studierenden, jungen Absolventen und Absolventinnen arbeiten, wie klug und überzeugend ihre Lösungen sind – egal, ob von jungen Männern oder Frauen. Und dann kommt der Zeitpunkt, an dem die jungen Frauen einfach aus der Arbeitswelt verschwinden.
Wenn man sich anschaut, bis wann Frauen in diesem Kreislauf sind, um ihren Input für eine bessere Zukunft leisten zu können, ist es im Studium noch topp. Spätestens nach vier, fünf Jahren aber verschwinden viele in die Teilzeit oder komplett. Das ist ein Riesen-, Riesenproblem. Das wirkt sich natürlich so aus, dass ein Blick, den wir für bessere Lösungen brauchen, nicht mehr zur Verfügung steht.
In der akademischen Welt haben einige Fakultäten einen Ausgleich geschaffen. Und andere schaffen es, in fünf Jahren acht Professuren neu zu besetzen, ohne dass eine einzige Frau dabei ist. Und das in einem Studiengang mit 70 Prozent Frauen! Das kann man nicht dulden. Das ist ein nicht akzeptables strukturelles Defizit!
Wir haben riesige Aufgaben vor uns und brauchen die Fachkräfte. Allein deswegen sollten wir Frauen darin bestärken, diesen Weg weiter zu gehen.
F!F: Wo sind deiner Erfahrung nach Stellschrauben?
Dilek Ruf: Zum einen auf der gesellschaftspolitischen und gesetzlichen Ebene: Ich glaube, dass Sichtbarkeit einen großen Effekt hat und dass man weibliche Rollenvorbilder braucht. Sonst bleibt es normal, dass Frauen irgendwann verschwinden und unsichtbar werden, obwohl wir 50 Prozent der Bevölkerung darstellen. Völlig gleich, ob man in die Leitung von Unternehmen schaut, in die Verbände oder in die Politik: Es gibt keine paritätische Besetzung.
Zum anderen können wir als Unternehmen Leitplanken setzen, um verschiedene Lebensmodelle und die Elternschaft zu unterstützen. Ich bin offen dafür, dass jemand – egal, ob Mann oder Frau – vielleicht erst mal 15 Stunden die Woche zurückkommt. Home-Office, Gestaltungsfreiheit für die Arbeitszeiten und so weiter: Da haben wir bei uns ein hohes Maß an Flexibilität und großes Vertrauen zueinander, dass wir dennoch unsere Aufgaben erfüllen.
Daneben müssen wir als Paare im Privaten miteinander verhandeln.
F!F: Wie habt ihr verhandelt?
Dilek Ruf: Für uns war es nie eine Frage, ob mein Mann mir hilft oder ob das nicht unser gemeinsamer Job ist. Also es nicht nur mein Haushalt, und es sind nicht nur meine Kinder. Da gab es nie die Erwartung, dass ich mich selbstständig mache und daneben 80 Prozent der Belastung im Haushalt trage. Daneben hatten wir große Unterstützung von familiärer Seite und auch das Glück, eine Haushaltshilfe zu haben, die viel abfedert.
„Wenn Türen geöffnet werden, sollten wir durchlaufen.“
F!F: Hierzulande wird nur ein Prozent der Architekturbüros mit mehr als zehn Mitarbeitenden ausschließlich von einer Frau geführt. Sprich, bundesweit 35 Büros, zu denen auch dein Büro zählt. Bei dir fielen Büro- und Familiengründung zusammen. Was hat dich ermutigt?
Dilek Ruf: Für mich gab es damals tatsächlich keine Alternative. Zum einen hat für mich, sicherlich auch biografisch bedingt, wirtschaftliche Unabhängigkeit eine extrem hohe Priorität. Zum Anderen: Die Strukturen in Architektur-Büros waren damals nicht so, dass ich Mama werden und trotzdem meinem Beruf, den ich sehr liebe, nachgehen kann.
Die Freiheit bestand darin, dass ich mich keinem Vorgesetzten erklären musste, wenn ich von 23 bis ein Uhr Dinge erledigt habe und so zu meinem Ergebnis gekommen bin. Oder wenn ich morgens vielleicht nicht um acht Uhr im Büro war, sondern erst um elf, weil mein Kind ein Kindergartenfest oder einen Arzttermin hatte.
Kleines Kind und Büro-Aufbau parallel, das war schon eine Herausforderung. Es ist kein einfacher Weg, aber ein lohnender. Weil er uns die Freiheit bringt, Dinge zu tun, die sehr befriedigend sind. Mit einem solchen Team arbeiten zu können, gesellschaftspolitisch ein Stück mit gestalten zu können: Das sind Privilegien, finde ich.
F!F: Netzwerken und Ehrenämter kosten zusätzlich Zeit.
Dilek Ruf: Ich bin kein extrovertierter Typ, nichtsdestotrotz gehört es zu meinem Job als Büroinhaberin, darauf aufmerksam zu machen: Wir sind da. Gleiches gilt auch für meine Verbandsarbeit für den BDA.
Wir brauchen Vernetzung und Öffentlichkeit für unsere Positionen, Ziele und natürlich auch unsere Fähigkeiten. Es funktioniert nicht, wenn ich in meinem Büro sitze und warte oder wir als Verband hinter verschlossenen Türen tagen. Das ist das Eine. Das Andere ist: Auf Veranstaltungen lernt man viel, lernt Menschen kennen, deren Geschichte, erfährt Neues. Ich brauche diesen Input, er ist bereichernd und inspirierend.
Als ich 2015 gefragt worden, ob ich für den BDA-Vorstand kandidieren möchte, war mein Sohn gerade vier Jahre alt, meine Tochter sechs, kurz vor der Einschulung, und das Büro noch im Aufbau. So dass ich dachte, willst du das wirklich?
Und ich habe mich aktiv dafür entschieden, trotz des Wissens, dass es eine zusätzliche Belastung ist: Wir Frauen können nicht einerseits sagen, wir sind nicht sichtbar. Und auf der anderen Seite, sagen, nein, das ist mir jetzt zu viel. Ich finde, wir stehen in der Verantwortung, unseren Beitrag zu leisten. Nicht nur auf der fachlichen, auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Wenn Türen geöffnet werden, sollten wir durchlaufen. Auch im Sinne unserer Töchter und Söhne.
Das Interview führte Liane Borghardt.
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